„Wir haben soeben bei der EU-Kommission einen Antrag auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung eingereicht.“
- Datenschutzrecht
Antrag auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung bei der EU-Kommission eingereicht
von Carl Christian Müller
Dies teilen die Rechtsanwälte Carl Christian Müller und Sören Rößner von der Kanzlei MMR Müller Müller Rößner Rechtsanwälte Partnerschaft in Berlin mit. Ihr Vorgehen begründen sie mit der andauernden Untätigkeit des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache.
Die Rechtsanwälte hatten bereits am 18.12.2015, am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung, Verfassungsbeschwerde erhoben. Zudem hatten Sie mit zwei ebenfalls beim Bundesverfassungsgericht gestellten Eilanträgen vom 06.11.2015 und 23.12.2016 vergeblich versucht, das Gesetz bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu suspendieren. Gegenstand aller Anträge war die offensichtliche Unvereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit europäischem Recht. Ab dem 01.07.2017 sind die Telekommunikationsunternehmen gesetzlich zwingend verpflichtet, bestimmte Daten auf Vorrat zu speichern.
„Das Bundesverfassungsgericht hat die Zurückweisung der Eilanträge mit der lediglich formelhaften und unionsrechtlich unhaltbaren Position begründet, selbst die offenkundige Unvereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit europäischen Recht sei im Eilrechtsschutz unbeachtlich (BVerfG, Beschluss v. 08.06.2016 – 1 BvQ 42/15 sowie Beschluss v. 26.03.2017 – 1 BvR 3156/15). Ob und wann mit einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde selbst zu rechnen ist, ist über eineinhalb Jahre nach deren Einreichung nicht abzusehen. Wir haben keinerlei Informationen des Gerichts über den Stand und weiteren Fortgang des Verfahrens – und das, obwohl im Gesetz festgeschrieben ist, dass die Speicherverpflichtung der Telekommunikationsanbieter ab dem 01.07.2017 beginnen soll“, berichtet Rechtsanwalt Carl Christian Müller.
„Vor Einleitung und im Verlauf des von uns vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Verfahrens hat der Europäische Gerichtshof in zwei Entscheidungen (EuGH, Urteil v. 08.04.2014 – C-293/12 und C-594/12 sowie Urteil v. 21.12.2016 – C-203/15 und C-698/15) unmissverständlich klargestellt, dass sich nationale Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung „auf das absolut Notwendige“ beschränken müssen und eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung gegen Europarecht verstößt. Diesen Anforderungen werden die deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung bereits deshalb nicht gerecht, weil sie die Verpflichtung zur anlass- und unterschiedslosen Speicherung von Daten vorsehen“, so Rechtsanwalt Sören Rößner.
„Dass die deutschen Regelungen einen flagranten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen, hat nun, am 22.06.2017, das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) in einem Eilverfahren (!) festgestellt und die am 01.07.2017 beginnende Speicherverpflichtung für das dort klagende Telekommunikationsunternehmen ausgesetzt“, freut sich Rößner (OVG NRW, Beschluss v. 22.06.2017 – 13 B 238/17).
„Das OVG NRW hat in erfreulicher Selbstverständlichkeit in einem Eilverfahren (!) festgestellt, dass kein öffentliches Interesse an dem Vollzug eines Gesetzes besteht, das offenkundig gegen Europäische Grundrechte verstößt. Die Bundesnetzagentur als zuständige Aufsichtsbehörde hat daraufhin mitgeteilt, Verstöße gegen die Speicherverpflichtung nicht ahnden zu wollen, also ein europarechtswidriges, aber gleichwohl gültiges deutsches Gesetz vorerst nicht anwenden zu wollen. Damit ist die Vorratsdatenspeicherung aber längst nicht vom Tisch. Insbesondere darf der Grundrechtsschutz in Deutschland nicht vom Gutdünken einer Behörde abhängen, sondern muss verbindlich und rechtsstaatlich abgesichert sein. Insofern halten wir es für befremdlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht bis heute nicht dazu in der Lage sieht, die einzig richtige und zwingende Konsequenz zu ziehen, nämlich das Gesetz sofort auszusetzen. Wer wie das Bundesverfassungsgericht meint, selbst die offenkundige Unionsrechtswidrigkeit einer nationalen Regelung sei in einem Eilverfahren nicht beachtlich, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, es mit der europäischen Integration nicht ganz ernst zu meinen – ein fatales Signal in diesen Zeiten“, betont Carl Christian Müller.
„Wir begegnen dem Bundesverfassungsgericht mit dem allergrößten Respekt, insbesondere vor dem Hintergrund seiner Historie und dessen Wirken im Verfassungsgefüge. Insofern mag die hiesige Kritik am Bundesverfassungsgericht im laufenden Verfahren ungewöhnlich anmuten. Dass aber das Gericht ein Verfahren von solch erheblicher politischer und gesellschaftlicher Tragweite schlicht liegen lässt, halten wir für mindestens ebenso ungewöhnlich. Daher suchen wir nun Hilfe und Rechtsschutz bei der EU-Kommission und hoffen darauf, dass die europäischen Grundrechte unserer Mandanten dort auf größeres Interesse stoßen“, so die Rechtsanwälte der Kanzlei MMR abschließend.