BVerfG: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot der Veröffentlichung von Anklageschriften vor der Hauptverhandlung

Der Straftatbestand des § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch, der unter anderem verbietet, eine Anklageschrift im Wortlaut öffentlich mitzuteilen, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert wurde, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

von Carl Christian Müller

Dies hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des

Bundesverfassungsgerichts im Anschluss an einen Beschluss des Ersten

Senats aus dem Jahr 1985 entschieden. In verfassungsgemäßer Weise soll

dieser Straftatbestand nicht nur die Rechte des Angeklagten schützen,

sondern auch verhindern, dass Verfahrensbeteiligte - insbesondere

Laienrichter und Zeugen - in ihrer Unbefangenheit beeinträchtigt werden.

Die Verfassungsbeschwerde eines Beschwerdeführers, der u. a. eine ihn

selbst betreffende Anklageschrift auf seine Homepage gestellt hatte und

deswegen strafrechtlich verfolgt wurde, hat die Kammer daher mangels

Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer wurde am 17. April 2009 wegen gewerbsmäßigen

Betrugs in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung angeklagt.

Mit Beschluss vom 1. Dezember 2009 ließ das Landgericht die Anklage

teilweise zu und eröffnete das Hauptverfahren; im Übrigen lehnte es die

Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen ab. In der

ersten Dezemberhälfte 2009 stellte der Beschwerdeführer diesen Beschluss

sowie Teile der Anklageschrift auf seiner Homepage als Download zur

Verfügung. Durch Urteil vom 8. April 2010 verurteilte das Amtsgericht

den Beschwerdeführer wegen verbotener Mitteilung über

Gerichtsverhandlungen (§ 353d Nr. 3 StGB) zu einer Geldstrafe in Höhe

von zehn Tagessätzen à 16 Euro. Berufung und Revision des

Beschwerdeführers blieben ohne Erfolg.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Verurteilung des Beschwerdeführers verstößt nicht gegen das

Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Insbesondere steht der Beschluss

des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Dezember 1985 (BVerfGE 71, 206),

soweit er in Gesetzeskraft erwachsen ist, nicht entgegen. Der - insoweit

maßgebliche - Tenor der Entscheidung, wonach § 353d Nr. 3 StGB „mit dem

Grundgesetz vereinbar , soweit die in dieser Bestimmung unter

Strafe gestellte wörtliche öffentliche Mitteilung der Anklageschrift

oder anderer amtlicher Schriftstücke ohne oder gegen den Willen des von

der Berichterstattung Betroffenen erfolgt ist“, beinhaltet nicht die

ausdrückliche Feststellung, dass die Norm in jedem anderen

Anwendungsfall unvereinbar mit der Verfassung sei.

2. Die Strafnorm des § 353d Nr. 3 StGB verletzt auch in Fällen, in denen

die Veröffentlichung mit dem Willen des Betroffenen erfolgt, nicht die

Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) oder das allgemeine

Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG).

a) aa) Es ist prinzipiell Aufgabe des Gesetzgebers, zu entscheiden, mit

welchen Mitteln der von einer Regelung verfolgte Zweck zu erreichen ist;

die Funktionenteilung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender

Gewalt gebietet daher insoweit Zurückhaltung bei der

verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die Geeignetheit wäre im

vorliegenden Fall nur zu verneinen, wenn § 353d Nr. 3 StGB zum Schutz

der Rechtsgüter, denen er dient, schlechthin ungeeignet wäre.

bb) § 353d Nr. 3 StGB verfolgt nach einhelliger Auffassung eine doppelte

Schutzrichtung. Er soll in erster Linie verhindern, dass

Verfahrensbeteiligte, insbesondere Laienrichter und Zeugen, durch die

vorzeitige Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke in ihrer

Unbefangenheit beeinträchtigt werden. Damit dient die Strafvorschrift

einerseits der Ermittlung des wahren Sachverhalts als Grundlage der

gerichtlichen Entscheidung und gewährleistet andererseits die unbedingte

Neutralität des Gerichts. Daneben treten als Schutzgut die

Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und - hinsichtlich des Angeklagten

- die Aufrechterhaltung der Unschuldsvermutung. Aufgrund dieser

doppelten Schutzrichtung entfällt die Zwecktauglichkeit der Vorschrift

nicht allein dadurch, dass sich ein Betroffener durch die verfrühte

Veröffentlichung seines eigenen Schutzes begibt. Bedeutung und Tragweite

des materiellen Schuldprinzips und der Neutralität des Gerichts für das

rechtsstaatliche Strafverfahren rechtfertigen bereits isoliert

betrachtet die Strafbarkeit seines Handelns. Daneben steht weiterhin der

Schutz der Persönlichkeitsrechte von anderen Betroffenen, etwa von

Mitangeklagten oder Nebenklägern.

cc) Zur Erreichung dieser Ziele ist § 353d Nr. 3 StGB trotz bestehender

Umgehungsmöglichkeiten nicht schlechterdings ungeeignet. Dies gilt

insbesondere, soweit der Gesetzgeber nur die Veröffentlichung im

Wortlaut unter Strafe gestellt, aber Wiedergaben in indirekter Rede vom

Tatbestand ausgenommen hat. Die hierdurch bestehenden

Umgehungsmöglichkeiten sind der Meinungsfreiheit geschuldet, die es

gebietet, nur absolut notwendige Einschränkungen vorzunehmen. Gegenüber

der erkennbaren Meinungsäußerung kommt dem Zitat die besondere

Überzeugungs- und Beweiskraft des Faktums zu. Nur eine wortgetreue

Wiedergabe von Aktenteilen erweckt den Eindruck amtlicher Authentizität

und bezweckt diesen regelmäßig auch. Sie wird deshalb in der Regel

weitergehende Wirkung haben als die bloße Mitteilung eines Dritten, in

der über den Inhalt amtlicher Akten berichtet wird. Gerade für den

Schutz der Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten ist dieser

Unterschied wesentlich.

b) Auch die Verhältnismäßigkeitsabwägung im engeren Sinne fällt zu

Gunsten der Verfassungsmäßigkeit von § 353d Nr. 3 StGB aus, selbst wenn

die Veröffentlichung mit dem Willen eines Betroffenen erfolgt.

Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Strafvorschrift sich

bereits begrifflich nicht auf Elemente des persönlichen Meinens und

Dafürhaltens, sondern nur auf Tatsachenbehauptungen erstreckt. Zudem ist

das Verbot zeitlich beschränkt bis zur Erörterung in der mündlichen

Verhandlung; auch während dieser Dauer bleiben Formen der indirekten

Wiedergabe erlaubt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass § 353d Nr.

3 StGB für alle Verfahrensbeteiligten des Strafprozesses, einschließlich

der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage, gilt. Ein einseitiges Recht

des Angeklagten zur Veröffentlichung würde die Wahrheitsfindung als

zentrales Element des Strafprozesses zu Gunsten einer außerprozessualen

Diskussion zurückdrängen.

c) Verletzungen der Meinungsfreiheit oder des allgemeinen

Persönlichkeitsrechts durch die mit der Verfassungsbeschwerde

angegriffenen Entscheidungen der Strafgerichte sind auch bezogen auf den

konkreten Einzelfall nicht ersichtlich.

Quelle: Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht vom 16.07.14

Zurück zur Newsübersicht