Nach Aufdeckung von betrügerischen Praktiken eines Pflegedienstes aus Berlin-Schöneberg in der RTL-Sendung „Team Wallraff – Reporter Undercover“ (5. Mai 2014) kündigte der Berliner Sozialsenator die mit dem Pflegedienst geschlossene Leistungsvereinbarung im Juni fristlos.
SG Berlin: Nach Wallraff-Enthüllungen: Fristlose Kündigung eines Pflegedienstes durch Sozialsenator bleibt wirksam
von Carl Christian Müller
Den hiergegen gerichteten Antrag auf Eilrechtsschutz lehnte das Sozialgericht per Beschluss wegen fehlender Dringlichkeit ab. Die Kündigung verursache nur einen relativ geringen finanziellen Schaden. Dem Pflegedienst könne zugemutet werden, den Ausgang der parallel erhobenen Klage abzuwarten. Auch das Ergebnis der laufenden strafrechtlichen Ermittlungen sei abzuwarten.
Für die TV-Dokumentation gab sich Günter Wallraff als gesunder Rentner aus, der als Sozialhilfeempfänger Hilfe im Haushalt benötige. Bei einem Besuch in seiner Wohnung zeigte die Geschäftsführerin des Pflegedienstes ihm und seiner angeblichen Tochter, mit welchen schauspielerischen Tricks er einen Schlaganfallpatienten mimen könne. Zugleich versorgte sie ihn unter anderem mit einem Rollator, Windeln und einer Urinflasche. Ziel war es, bei der Pflegebedarfsfeststellung des Sozialamtes möglichst umfangreiche Hilfeleistungen bewilligt zu bekommen. Als Belohnung sollte Wallraff davon 25 % für sich behalten dürfen.
Aufgrund dieses und drei weiterer ähnlicher Fälle kündigte die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Antragsgegner) mit Schreiben vom 11. Juni 2014 die mit der Pflegedienst-GmbH (Antragstellerin) geschlossene Leistungsvereinbarung über die Erbringung von Haushilfe und Hauspflege fristlos. Die Antragstellerin habe zulasten des Landes Berlin in erheblichem Umfang und zumindest grobfahrlässig nicht erbrachte Leistungen abgerechnet. Sie sei als unzuverlässig zu bewerten. Eine Fortführung des Vertrags sei nicht zumutbar.
Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 17. Juni 2014 an das Sozialgericht Berlin. Bei der Kündigung handele es sich um eine Überraschungsentscheidung. Der Antragsgegner versuche, sie kalt zu stellen. Ihr drohe die wirtschaftliche Vernichtung. Ohne vertragliche Grundlage sei es ihr nicht möglich, Leistungen zu erbringen und abzurechnen.
Durch Beschluss vom 8. Juli 2014 hat die Vorsitzende der 212. Kammer des Sozialgerichts Berlin den Antrag zurückgewiesen. Es gebe keine Eilbedürftigkeit. Die Kündigung betreffe nur den kleinen Teilbereich der nach § 75 Abs. 3 SGB XII (zusätzlich zu den Leistungen der Pflegeversicherung) erbrachten Haushilfe und Hauspflege, zum Beispiel psychosoziale Betreuung, Maniküre, Haarwäsche. Dieser Bereich mache nur 2,5 % des monatlichen Umsatzvolumens aus. Eine wirtschaftliche Schieflage drohe damit nicht. Die Antragstellerin sei vielmehr auch weiterhin als Pflegedienst zugelassen. Andere Versorgungsverträge seien bisher nicht gekündigt. Die Durchführung eines Prüfungsverfahrens obliege insoweit den Landesverbänden der Pflegekasse.
Vor diesem Hintergrund könne im Eilverfahren dahingestellt bleiben, ob die Einwände der Antragstellerin in der Sache berechtigt seien. Diese Beurteilung bleibe dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Dafür seien auch die vom Bezirksamt Mitte veranlassten strafrechtlichen Ermittlungen abzuwarten.
Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig. Er kann von der Antragstellerin mit der Beschwerde beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in Potsdam angefochten werden.
Anmerkung der Pressestelle:
Den Großteil ihrer Leistungen rechnen die Pflegedienste in der Regel mit den Pflegekassen als Träger der Pflegeversicherung ab. Vergleichbar einer Teilkaskoversicherung deckt die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) jedoch meist nicht den ganzen Pflegebedarf ab. Für die nicht versicherten Leistungen müssen die Pflegebedürftigen selbst zahlen. Sofern ihr Einkommen und ihr Vermögen hierfür nicht ausreichen, springen die Sozialämter ein. In einer gesonderten Pflegebedarfsfeststellung machen sie sich selbst ein Bild von den benötigten Hilfen.
Zur Lage am Sozialgericht:
2013 war das vierte Jahr in Folge, in dem das SG Berlin mehr als 40.000 Neueingänge zu bewältigen hatte. Zurzeit erreichen die Klagen das Sozialgericht Berlin im 14-Minuten-Takt: Monatlich kommen rund 3.200 neue hinzu. 4 % davon betreffen (wie der oben geschilderte Fall) die Sozialhilfe. Das Hauptproblem heißt weiterhin Hartz IV (ca. 60 % aller Fälle): Anfang Mai ging allein am SG Berlin das 200.000. Verfahren im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende ein. Immer noch klagt alle 22 Minuten ein Berliner gegen sein Jobcenter. Jeden Monat treffen rund 2000 neue SGB II-Verfahren ein. Rund ¼ davon sind Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, also Eilverfahren. Erhebliche Sorgen bereitet das Anwachsen des Aktenberges: Es gibt immer mehr unerledigte Verfahren, und sie werden immer älter. Rund 42.500 Fälle (aus allen Rechtsgebieten) warten auf ihre Bearbeitung – das Jahrespensum aller 129 Richterinnen und Richter.
Quelle: Pressemitteilung Sozialgericht Berlin vom 11.07.14