• Medienrecht

„Sonntagsfrage“ unter Einbeziehung der Briefwähler darf vor der Bundestagswahl veröffentlicht werden

Mit Eilentscheidung vom 16.09.2021 hat die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Wiesbaden auf Antrag des Meinungsforschungsinstituts forsa festgestellt, dass es nicht gegen § 32 Abs. 2 BWahlG verstößt, wenn forsa vor dem Wahltag der Bundestagswahl Ergebnisse von Befragungen veröffentlicht, denen auch die Angaben von Briefwählern über ihre bereits getroffenen Wahlentscheidungen zugrunde liegen (Az. 6 L 1174/21.WI).

von Carl Christian Müller

bunte Papierschiffe

VG Wiesbaden zur Medienfreiheit

forsa beliefert Medienunternehmen

Die Antragstellerin forsa ist ein Unternehmen der Meinungsforschung und veröffentlicht unter anderem auf Grundlage telefonischer Wählerbefragungen Stimmungsbilder („Prognosen“) zum Wählerverhalten bei der Bundestagswahl am 26.09.2021 („Sonntagsfrage“). Die Antragstellerin liefert ihre Umfrageergebnisse an ihren Auftraggeber, das Medienunternehmen RTL/n-tv, und über einen Verteiler („Trendbarometer“) auch an zahlreiche anderen Medien, die diese Zahlen ebenfalls veröffentlichen können.

 

Meinungsforschungsinstitut erfasst auch Briefwähler

Zu den Befragten gehören bei Umfragen der Antragstellerin sowohl Wähler, die ihre Stimme bei der Urnenwahl am 26.09.2021 abgeben wollen, als auch Wähler, die ihre Stimme bereits bei der seit August möglichen Briefwahl abgegeben haben. Sobald vor einer Wahl die Möglichkeit besteht, die Stimme per Briefwahl abzugeben, fragt die Antragstellerin die Umfrageteilnehmer zunächst, ob und gegebenenfalls wie sie bereits per Brief gewählt haben; wer noch nicht gewählt hat, wird nach seiner voraussichtlichen Wahlentscheidung gefragt. Die Antragstellerin beabsichtigt, das Stimmverhalten der Briefwähler in die Umfrageergebnisse einzubeziehen, die sie veröffentlicht, ohne sie aber getrennt auszuweisen.

 

Bei Verstoß gegen das Veröffentlichungsverbot droht Bußgeld von 50 000 EUR

Der Antragsgegner, der Bundeswahlleiter, bat die Antragstellerin wie auch die anderen Meinungsforschungsinstitute, mit Blick auf ein drohendes Bußgeld in Höhe von 50 000 EUR von der Veröffentlichung von Umfragen abzusehen, in die die Antworten von Briefwählern eingeflossen seien. Die Antragstellerin verstoße nämlich gegen § 32 Abs. 2 Bundeswahlgesetz. § 32 Abs. 2 Bundeswahlgesetz lautet:

„Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“

Die Wahlzeit endet am 26.09.2021 um 18 Uhr.

 

Wahlumfragen gehören zum politischen und demokratischen Diskurs

Nach Auffassung des VG Wiesbaden ist der Antrag auf vorläufige Feststellung begründet. Zwar könne das Verbot der Veröffentlichung von Wählerbefragungen dem Wortlaut der Vorschrift nach auch auf die Zeit vor dem Wahltag erstreckt werden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sei aber ein Verbot der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen, die auch auf Grundlage von Nachwahlbefragungen zustande gekommen seien, eng auszulegen und in jedem Fall nicht auf die Zeit vor dem Wahltag zu erstrecken. Denn die Veröffentlichung von Wahlumfragen sei durch die Grundrechte der Antragstellerin geschützt. Auch müsse berücksichtigt werden, dass das Veröffentlichungsverbot auch die Freiheit der Berichterstattung der Medien beeinträchtige und damit erheblich in das für eine Demokratie zentrale Grundrecht der freien Medien (Art. 5 Abs. 1 GG) eingreife. Die Veröffentlichung von Wählerumfragen gehöre zum politischen und demokratischen Prozess und sei ein zulässiger Beitrag zum öffentlichen Diskurs gerade im Vorfeld einer Wahl. Die Freiheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG), deren schütze vor Wählerbeeinflussung durch Täuschung, Drohung oder Gewalt, nicht aber vor wahrheitsgemäßen Tatsachenbehauptungen wie Meinungsumfragen. Mit seiner auf eine weite Auslegung des § 32 Abs. 2 Bundeswahlgesetz gestützten Bußgeldandrohung verletze der Antragsgegner daher die Grundrechte der Antragstellerin.

Gegen den Beschluss können die Beteiligten binnen zwei Wochen Beschwerde einlegen, über die der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel zu entscheiden hätte.

Quelle: Pressemitteilung des VG Wiesbaden vom 16. September 2021

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