Wettlauf um Innovation und Regulation - China schlägt weltweit anerkanntes KI-Regelwerk vor

Lange galt das Wettrennen im Bereich der Künstlichen Intelligenz als ein technologisches: Wer entwickelt das leistungsfähigere Sprachmodell? Wer kann neuronale Netze schneller skalieren? Wer hat Zugang zu mehr Rechenleistung, mehr Daten, mehr Talenten? Doch zunehmend zeigt sich: Es geht nicht mehr nur um Innovation. Der neue Schauplatz dieses geopolitischen Wettbewerbs ist die Regulierung. Denn wer Standards setzt, prägt nicht nur die Spielregeln der Zukunft, sondern auch die zugrunde liegenden Wertvorstellungen.

von Carl Christian Müller

Chinas strategischer Vorstoß

China hat diesen Zusammenhang erkannt. Auf der an diesem Wochenende stattfindenden World AI Conference in Shanghai schlug Chinas Premier Li Qiang nicht nur ein internationales Regelwerk für Künstliche Intelligenz vor, sondern auch die Gründung einer eigenen globalen Regulierungsorganisation mit Sitz in China. Was auf den ersten Blick wie eine konziliante Antwort auf die Gefahren von Hochrisiko-KI erscheinen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als strategischer Vorstoß: Es geht nicht um Selbstbeschränkung, sondern um Selbstbehauptung.

Normenwettstreit der Systeme

Während die USA weiter auf Deregulierung und marktwirtschaftliche Freiheit setzen, will China mit verbindlichen internationalen Standards den Rahmen für die globale KI-Entwicklung mitbestimmen. Die Gefahr liegt dabei weniger in den vorgeschlagenen Inhalten als in der geopolitischen Absicht: Wer die Regeln schreibt, bestimmt auch, wessen Interessen geschützt werden. Die Vorstellung von Transparenz, Sicherheit und Fairness in der KI ist dabei nicht universal, sondern kultur- und systemabhängig.

Europas regulatorisches Paradox

Die EU wiederum befindet sich in einer paradoxen Situation. Mit dem AI Act hat sie das weltweit strengste Regulierungsregime für KI geschaffen. Doch während Brüssel rechtlich vorangeht, bleibt es technologisch zurück. Die europäische KI-Landschaft leidet unter zersplitterten Märkten, zu wenig Wagniskapital und dem Fehlen großer Plattformunternehmen. Viele Start-ups wandern ab, Investoren zögern. Die europäische Regulierung mag durchdacht sein, aber sie trifft auf ein ökonomisches Fundament, das kaum tragfähig genug ist, um internationale Standards auch technologisch zu unterfüttern.

Der EuroStack als Zukunftsmodell

Doch es gibt Konzepte, die einen Ausweg weisen. Der sogenannte "EuroStack", entwickelt unter anderem von der Ökonomin Francesca Bria und gefördert von der Bertelsmann Stiftung, schlägt einen souveränen europäischen Technologiepfad vor. Über einen Zeitraum von zehn Jahren sollen 300 Milliarden Euro in europäische Infrastruktur, Cloud-Plattformen, Chips und offene KI-Modelle investiert werden. Die Finanzierung soll durch EU-Mittel, nationale Beiträge und die Besteuerung der großen Plattformkonzerne gesichert werden. Ziel ist eine unabhängige, demokratisch legitimierte digitale Infrastruktur. Oder, wie es im Report heißt: "a digital public stack for Europe, based on openness, participation and sustainability."

Digitale Souveränität als völkerrechtlicher Hebel

Die völkerrechtliche Dimension dieses Vorschlags ist nicht zu unterschätzen. Wenn China multilaterale Regeln in die UN trägt und damit Standards vorschlägt, die mit westlichen Vorstellungen von Grundrechten und Demokratie nur begrenzt kompatibel sind, muss Europa in der Lage sein, ein alternatives Regelwerk anzubieten. Dazu gehören nicht nur kluge Verordnungen, sondern auch glaubwürdige Investitionen in die eigene digitale Souveränität. Nur wer digitale Infrastruktur besitzt, kann völkerrechtlich über Zugangsregeln, Datenschutz und Interoperabilität verhandeln.

Investitionsschutz und europäische Interessen

Auch investitionsrechtlich stellt sich die Frage nach der strategischen Steuerung. Wenn Investitionsschutzabkommen nicht auf ein europäisches Wertefundament rekurrieren, droht eine Asymmetrie: Während außereuropäische Konzerne Marktzugänge fordern, ohne sich an europäische Grundsätze zu binden, verlieren europäische Unternehmen international an Boden. Die Regulierung muss daher mit einer europäischen Industriestrategie verknüpft werden, die Investitionen in gemeinwohlorientierte, nachhaltige und faire Technologien priorisiert.

Fazit: Gestaltungsanspruch in der digitalen Ordnung

Der globale KI-Wettlauf ist also kein Sprint um Codezeilen, sondern ein Marathon um Gestaltungsansprüche. Wer hier gewinnen will, muss Innovation und Regulierung zusammendenken – und das nicht nur national, sondern europäisch, demokratisch und völkerrechtlich robust.

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