Im Verfahren 1 BvR 1858/14 hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung mit Beschluss vom 31. Juli 2014 teilweise stattgegeben.
Im Verfahren 1 BvR 1858/14 hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung mit Beschluss vom 31. Juli 2014 teilweise stattgegeben.
von Carl Christian Müller
Die zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen eine
sitzungspolizeiliche Anordnung zur Beschränkung der
Presseberichterstattung über ein Strafverfahren. Die Beschwerdeführerin
ist Verlegerin mehrerer Zeitungen.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Am 11. Juni 2014 begann vor der Großen Strafkammer 1 des Landgerichts
die Hauptverhandlung im Strafverfahren wegen eines im Dezember 2013 an
inneren Verletzungen verstorbenen dreijährigen Mädchens. Angeklagte des
Strafverfahrens sind die Eltern des Kindes. Dem Vater wird die
Misshandlung von Schutzbefohlenen und Körperverletzung mit Todesfolge
vorgeworfen. Die Mutter ist wegen Mordes angeklagt. Erster
Verhandlungstag war der 11. Juni 2014. Insgesamt sind bis Ende September
22 Verhandlungstermine angesetzt. Der nächste Verhandlungstag ist auf
den 11. August 2014 terminiert. Der Prozess war und ist Gegenstand
umfangreicher Berichterstattung in den regionalen und überregionalen
Medien und beschäftigte die Öffentlichkeit so nachhaltig, dass ein
parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Aufklärung von möglichen
Fehlern in den zuständigen Behörden und Trägern eingesetzt wurde.
Am 3. Juni 2014 erließ der Vorsitzende der Großen Strafkammer des
Landgerichts eine Medienverfügung, die folgenden Wortlaut hat:
In dem Verfahren gegen die Eltern des im Dezember 2013 verstorbenen
Kindes … hat der Vorsitzende folgende Anordnung gemäß § 176 GVG
getroffen:
1. Ton-, Foto- und Filmaufnahmen im Sitzungssaal werden nach Maßgabe
der nachstehend beschriebenen „Poollösung“ gestattet.
a) Sofern bei den Medien der Wunsch besteht, werden an den
Sitzungstagen jeweils unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung
und nur in Anwesenheit des Gerichts Foto- und Fernsehaufnahmen im
Verhandlungssaal gestattet und zwar im Rahmen der sogenannten
Poollösung unter der Bedingung, dass die Aufnahmen nicht zu einer
Störung des Sitzungsbetriebes führen.
(…)
3. Film und Fotoaufnahmen im Vorraum zum Sitzungssaal (beim Saal 237
der gesamte Bereich hinter der Stahltür) und im Umkreis von 5 m zum
Eingang des Sitzungssaals sind nicht gestattet.
4. Die Aufnahmen sowie Zeichnungen der beiden Angeklagten sind zu
anonymisieren, es sei denn, diese erklären ausdrücklich ihre
Zustimmung zu einer abweichenden Vorgehensweise.
5. Nahaufnahmen (Porträtaufnahmen) des Gerichts sind nicht zulässig.
6. Nahaufnahmen (Porträtaufnahmen) der Verteidigerin / des
Verteidigers und des Sitzungsvertreters / der Sitzungsvertreterin
der Staatsanwaltschaft sind nur zulässig, wenn diese ihre Zustimmung
erklären.
7. Von Zeugen und Sachverständigen dürfen ohne ihre Zustimmung keine
Aufnahmen angefertigt werden.
8. Darüber hinaus sind Foto-, Film- und Tonbandaufnahmen im
Sitzungssaal nicht gestattet. Aufnahmegeräte, Mobiltelefone und
Laptops sind während der Verhandlung auszustellen.
9. Die vorstehenden Regelungen befreien die Medienvertreter nicht
von der ihnen obliegenden Verpflichtung zu prüfen und zu
gewährleisten, dass sie mit ihrer Berichterstattung nicht die
Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzen.
10. Es wird untersagt, im Sitzungssaal mit den Verfahrensbeteiligten
Interviews oder interviewähnliche Gespräche zu führen.
(…)
In seiner Stellungnahme auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts
begründet der Vorsitzende die Verfügung nachträglich wie folgt: Wegen
des großen Medieninteresses habe er die von der Rechtsprechung
anerkannte und gebilligte Poollösung gewählt. Im Übrigen sei die
angegriffene Anordnung das Ergebnis einer von ihm getroffenen
Güterabwägung unter Berücksichtigung des hohen Stellenwerts der in Art.
5 GG garantierten Pressefreiheit, der schutzwürdigen Interessen und
Persönlichkeitsrechte der beiden Angeklagten und aller weiteren
Verfahrensbeteiligten sowie der Pflicht zur Gewährleistung eines
geordneten und sachorientierten Sitzungsverlaufs. Diese Güterabwägung
wird nicht weiter erläutert.
Die Beschwerdeführerin, der die Gründe der angegriffenen Entscheidungen
nach ihrem Vortrag nicht bekannt waren, wendet sich gegen Ziffer 1.a), 3.
bis 8., 10. der sitzungspolizeilichen Anordnung sowie Ziffer 4, soweit
für eine nicht anonymisierte Abbildung die ausdrückliche Zustimmung der
Angeklagten notwendig ist, und beantragt ihre Aussetzung.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Die Kammer hat im Wege des Eilverfahrens die Ziffern 1.a), 3., 5., 6.,
7. und 8. Satz 1 der sitzungspolizeilichen Verfügung ausgesetzt, da die
Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der in diesen Ziffern enthaltenen
Anordnungen offensichtlich begründet ist. Ergibt die Prüfung im
Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich
begründet wäre, und käme eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren
ersichtlich zu spät, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein
schwerer Nachteil für das gemeine Wohl.
2. Die aufgehobenen Ziffern der sitzungspolizeilichen Anordnung sind
verfassungswidrig, weil der Vorsitzende die Verfügung nicht gegenüber
den Betroffenen begründet hat. Die nachträglich übersandte Stellungnahme
konnte den Begründungsmangel nicht heilen.
a) Ton- und Bildaufnahmen unmittelbar vor oder nach einer Verhandlung
oder in den Sitzungspausen sind von der Presse- und Rundfunkfreiheit
umfasst. Eine Anordnung, die solche Aufnahmen ausschließt oder begrenzt,
setzt deshalb im Interesse der Wirksamkeit des materiellen
Grundrechtsschutzes voraus, dass der Vorsitzende die für seine
Entscheidung maßgebenden Gründe offenlegt und dadurch für die
Betroffenen erkennen lässt, dass in die Abwägung alle dafür erheblichen
Umstände eingestellt worden sind. Der Vorsitzende hat hierbei der
Bedeutung der Pressefreiheit Rechnung zu tragen und den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit zu beachten. Bei der Ermessensausübung sind
einerseits die Pressefreiheit und andererseits der Schutz des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beteiligten, namentlich der
Angeklagten und der Zeugen, aber auch der Anspruch der Beteiligten auf
ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG)
sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die
ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung zu beachten. Der Vorsitzende
muss die Umstände, die Beschränkungen der Pressefreiheit erforderlich
machen, darlegen, wenn diese nicht auf der Hand liegen oder sich für
einen verständigen Prozessbeteiligten von selbst verstehen.
Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Die sitzungspolizeiliche
Verfügung selbst wird nicht begründet. Die später übersendete
Stellungnahme, in der der Vorsitzende nur die Gründe für die Poollösung
erläutert und ansonsten, ohne auf die konkreten Umstände näher
einzugehen, lediglich behauptet, dass die angegriffene Anordnung das
Ergebnis einer Güterabwägung sei, konnte diesen Mangel nicht heilen. Da
im Ergebnis eine sachhaltige Begründung fehlt, ist die
sitzungspolizeiliche Anordnung hinsichtlich der genannten Ziffern
auszusetzen.
b) Der Vorsitzende wird den Erlass einer neuen Anordnung zu prüfen
haben. Anordnungen, die gemäß § 176 GVG die Anfertigung von Bild- und
Fernsehaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der
Hauptverhandlung beschränken und damit in die Pressefreiheit eingreifen,
bedürfen konkreter, auf Gesichtspunkte der Sitzungsleitung bezogener
Gründe zum Schutz des Angeklagten und der sonstigen
Verfahrensbeteiligten, eines ungestörten Verlaufs der Sitzung oder der
Bedingungen für eine ungestörte Rechts- und Wahrheitsfindung.
Eine Abwägung ist auch für die Frage der Ablichtung von Zeugen und
Sachverständigen vorzunehmen. Droht bei einer Abbildung eine erhebliche
Belästigung oder Gefährdung für deren Sicherheit, kann der Schutz vor
ungewollten Abbildungen auch einem sachlichen, die Wahrheitsfindung
fördernden Verfahrensverlauf dienen. Etwas anderes kann dann gelten,
wenn sich Zeugen oder Sachverständige bereits zuvor mit ihren Äußerungen
freiwillig in die Öffentlichkeit begeben haben.
3. Der weitergehende Antrag der Beschwerdeführerin auf Aussetzung der
sitzungspolizeilichen Anordnung hat keinen Erfolg, weil er hinsichtlich
Ziffer 4 der Anordnung unzulässig und hinsichtlich Ziffer 8. Satz 2 und
10. unbegründet ist. Hinsichtlich des Verbots von Interviews- und
interviewähnlichen Gespräche (Ziffer 10.) fehlt es an einem schweren
Nachteil für die Beschwerdeführerin im Sinne des § 32 BVerfGG. Soweit
die Beschwerdeführerin das Verbot von Laptops, Aufnahmegeräten und
Mobiltelefonen angreift, ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich
unbegründet. Es handelt sich um eine typisierte Regelung zur allgemeinen
Gewährleistung eines geordneten Sitzungsablaufs. Die Gründe für die
Untersagung dieser Geräte liegen auf der Hand. Werden Aufnahmen während
der Verhandlung angefertigt, wird der Anspruch der Beteiligten auf ein
faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG)
verletzt. Demgegenüber wird die Pressefreiheit durch die Anordnung nicht
in erheblichem Maße beeinträchtigt.
Quelle: Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht vom 07.08.14