BVerfG: Die Bezeichnung anderer als „rechtsradikal“ ist ein Werturteil

Eine Person in einem Internetforum in Auseinandersetzung mit deren Beiträgen als „rechtsradikal“ zu betiteln, ist ein Werturteil und grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht in einem heute veröffentlichten Beschluss vom 17. September 2012 und hob daher die angegriffenen Unterlassungsurteile auf.

von Carl Christian Müller

Es obliegt nun den Zivilgerichten, das Grundrecht auf

Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers mit dem allgemeinen

Persönlichkeitsrecht der kritisierten Person abzuwägen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Der im zivilrechtlichen Ausgangsverfahren auf Unterlassung klagende

Rechtsanwalt beschäftigte sich auf seiner Kanzleihomepage und in

Zeitschriftenveröffentlichungen mit politischen Themen. Er schrieb unter

anderem über die „khasarischen, also nicht-semitischen Juden“, die das

Wirtschaftsgeschehen in der Welt bestimmten, und über den

„transitorischen Charakter“ des Grundgesetzes, das lediglich ein

„ordnungsrechtliches Instrumentarium der Siegermächte“ sei.

Der Beschwerdeführer, ebenfalls Rechtsanwalt, setzte sich in einem

Internet-Diskussionsforum mit diesen Veröffentlichungen auseinander: Der

Verfasser liefere „einen seiner typischen rechtsextremen originellen

Beiträge zur Besatzerrepublik BRD, die endlich durch einen

bioregionalistisch organisierten Volksstaat zu ersetzen sei“. Wer meine,

„die Welt werde im Grunde von einer Gruppe khasarischer Juden

beherrscht, welche im Verborgenen die Strippen ziehen“, müsse „es sich

gefallen lassen, rechtsradikal genannt zu werden“.

Das Landgericht und das Oberlandesgericht verurteilten den

Beschwerdeführer zur Unterlassung der Äußerungen, wobei das Landgericht

sie teilweise als unwahre Tatsachenbehauptungen und das

Oberlandesgericht sie als Schmähkritik aus dem Schutzbereich der

Meinungsfreiheit herausfallen ließen. Das Bundesverfassungsgericht hat

beide Urteile aufgehoben und die Sache an das Landgericht

zurückverwiesen.

2. Diese Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf

Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

a) Es handelt sich um Meinungsäußerungen in Form eines Werturteils, denn

es ist nicht durch eine Beweiserhebung festzustellen, wann ein Beitrag

„rechtsextrem“ ist, wann sich ein Denken vom „klassisch rechtsradikalen

verschwörungstheoretischen Weltbild“ unterscheidet und wann man „es sich

gefallen lassen muss, rechtsradikal genannt zu werden“.

b) Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit werden verkannt, wenn

eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung

oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im

selben Maß am Grundrechtsschutz teilnimmt wie Äußerungen, die als

Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.

Verfassungsrechtlich ist die Schmähung eng definiert, da bei ihrem

Vorliegen schon jede Abwägung mit der Meinungsfreiheit entfällt. Eine

Schmähkritik ist nicht einfach jede Beleidigung, sondern spezifisch

dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der

Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Dies

kann hier aber nicht angenommen werden, denn alle Äußerungen haben einen

Sachbezug.

c) Verfassungsrechtlich geboten war also eine Abwägung zwischen der

Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem Allgemeinen

Persönlichkeitsrecht des Unterlassungsklägers. Das Ergebnis dieser

Abwägung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Abwägung

muss das Gericht, an das zurückverwiesen wurde, berücksichtigen, dass

der Unterlassungskläger weder in seiner Intim- noch in seiner

Privatsphäre betroffen ist, sondern allenfalls in seiner Sozialsphäre.

Dagegen ist die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers in ihrem Kern

betroffen. Die Verurteilung zur Unterlassung eines Werturteils muss im

Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum

Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Der

Unterlassungskläger hat seine Beiträge öffentlich zur Diskussion

gestellt; dann muss zur öffentlichen Meinungsbildung auch eine

inhaltliche Diskussion möglich sein.

Beschluss vom 17. September 2012 - 1 BvR 2979/10

Quelle: Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht vom 13.11.2012

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