Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines Zeitungverlags gegen eine Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts stattgegeben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Das Oberverwaltungsgericht hatte es im Eilrechtsschutzverfahren abgelehnt, einen Landgerichtspräsidenten zur Zusendung einer anonymisierten Urteilskopie über ein von hohem Medieninteresse begleitetes Strafverfahren zu verpflichten. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Die vom Oberverwaltungsgericht angeführten Gründe lassen eine Gefährdung des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens oder weiterer Strafverfahren nicht erkennen.
BVerfG zum presserechtlichen Auskunftsanspruch auf Zusendung einer Urteilskopie
von Carl Christian Müller
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin, eine Zeitungs-Verlagsgruppe, begehrte im Eilrechtsschutzverfahren die Übersendung einer anonymisierten Urteilskopie über ein Strafverfahren vor dem Landgericht gegen den ehemaligen Innenminister des Freistaates T. und Beigeordneten der Stadt E. (nachfolgend: der Beigeladene). Diesen hatte das Landgericht wegen Vorteilsannahme in zwei Fällen und Abgeordnetenbestechung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt. Die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen weiteren Beschuldigten stellte das Landgericht bis zur Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs zurück.
Das Verwaltungsgericht hat den Präsidenten des Landgerichts antragsgemäß verpflichtet, der Beschwerdeführerin Auskunft über die schriftlichen Urteilsgründe durch Übersendung einer anonymisierten Kopie des vollständigen Urteils zu erteilen. Auf die Beschwerde des Beigeladenen änderte das Oberverwaltungsgericht mit angefochtenem Beschluss die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ab und lehnte den Antrag der Beschwerdeführerin auf Auskunftserteilung ab. Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Anwendung von § 4 Abs. 1 und 2 des Thüringer Pressegesetzes (ThürPrG) durch das Oberverwaltungsgericht verletzt die Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.
1. Im Ausgangspunkt hat das Oberverwaltungsgericht die Vorschrift allerdings in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend ausgelegt, dass den auskunftspflichtigen Stellen - auch unter Berücksichtigung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG - grundsätzlich ein Ermessensspielraum bei der Frage nach Art und Umfang der Auskunft zusteht. In keinem der Landespressegesetze - so auch nicht in Thüringen - wird der Inhalt des presserechtlichen Auskunftsanspruchs näher präzisiert. Den Behörden wird ein Ermessensspielraum zugestanden, der sich lediglich im Einzelfall zu einem Anspruch auf Akteneinsicht verdichten soll. Bei der Bestimmung der konkreten Tragweite des Auskunftsanspruchs im Einzelfall ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Das danach maßgebliche öffentliche Informationsinteresse ist anhand des Gegenstands des Auskunftsersuchens und damit der beabsichtigten Berichterstattung zu bestimmen. Im Grundsatz besteht jedoch kein Anspruch auf Akteneinsicht.
2. Für die Auskunft über Gerichtsentscheidungen gelten jedoch Besonderheiten, die das Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend beachtet hat. Es ist weithin anerkannt, dass aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung grundsätzlich eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen folgt. Diese Veröffentlichungspflicht erstreckt sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern kann bereits vor Rechtskraft greifen. Sie bezieht sich auf die Entscheidungen als solche in ihrem amtlichen Wortlaut. Hiermit korrespondiert ein presserechtlicher Auskunftsanspruch von Medienvertretern.
3. Der Zugang zu Gerichtsentscheidungen ist allerdings nicht unbegrenzt. So sind die Entscheidungen etwa hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände in der Regel zu anonymisieren. Unberührt von der grundsätzlichen Zugänglichkeit von Gerichtsentscheidungen bleiben auch die allgemeinen gesetzlichen wie verfassungsrechtlichen Anforderungen an den weiteren Umgang der Medien mit den Entscheidungen. Die Sorgfaltspflichten der Medien können jedoch nicht schon generell zum Maßstab für das Zugänglichmachen der gerichtlichen Entscheidungen seitens der Gerichtsverwaltung gemacht werden.
4. Wieweit die Beeinträchtigung des weiteren oder anderer Gerichtsverfahren der Zugänglichmachung von Gerichtsentscheidungen Grenzen setzen kann und Entscheidungen deshalb auch als Ganze zurückgehalten werden können, kann hier offenbleiben. Denn jedenfalls tragen die in dem angegriffenen Beschluss angeführten Gründe eine Zurückhaltung der in Frage stehenden Entscheidungen nicht. Er verweist ohne nähere Darlegungen auf eine bloß mögliche Gefährdung des noch nicht rechtskräftigen Verfahrens des Beigeladenen sowie weiterer Strafverfahren, namentlich auf die potentielle Beeinträchtigung von Zeugen. Dies genügt zur Ablehnung eines auf Herausgabe der Urteilsabschrift gerichteten Auskunftsanspruchs nicht. Jedenfalls angesichts des Umstands, dass es sich bei dem Beigeladenen um eine Person des öffentlichen Lebens handelt und es um strafrechtliche Vorwürfe mit öffentlichem Bezug geht, können die begehrten Entscheidungen allenfalls dann vollständig unter Verschluss gehalten werden, wenn konkrete Anhaltspunkte die Gefahr einer Vereitelung, Erschwerung, Verzögerung oder Gefährdung der sachgemäßen Durchführung eines Strafverfahrens im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 1 ThürPrG unmittelbar und dringend nahelegen. Solche Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich. Auch drängt sich in keiner Weise auf, dass die Beschwerdeführerin ihr obliegende Sorgfaltspflichten und die Rechte Dritter nicht respektieren wird.
Beschluss vom 14. September 2015
1 BvR 857/15
Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes vom 29.10.2015