Das Bundesverfassungsgericht entschied in seinem Urteil vom 09.06.2020, dass der Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sein dpa-Interview mit kritischen Äußerungen gegenüber der AfD nicht auf der Internetseite des Innenministeriums veröffentlichen darf (Az: 2 BvE 1/19). In diesem Verhalten sah das Verfassungsgericht einen Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität sowie eine Verletzung der AfD in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb. Das Gericht wertete das Interview mit dem CSU-Politiker als Teilnahme am politischen Meinungskampf, in dessen Rahmen der Innenminister durch die Veröffentlichung auf der Website des Innenministeriums auf staatliche Ressourcen zurückgegriffen habe.
- Äußerungsrecht
Interview mit Seehofer verletzt AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit
von Carl Christian Müller
Bundesverfassungsgericht hält Veröffentlichung auf Ministeriumswebsite für unzulässig
Seehofer bewertet Verhalten der AfD gegenüber dem Bundespräsidenten als "staatszersetzend"
Am 14. September 2018 veröffentlichte das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat auf seiner Internetseite ein Interview des Ministers mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). In dem Interview äußert sich der CSU-Politiker, angesprochen auf die AfD, wie folgt: „Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.“ Im weiteren Verlauf des Interviews bekundet er außerdem, dieses Vorgehen sei „einfach schäbig“ gewesen. Sodann bejaht er die Frage, ob die AfD radikaler geworden sei, und fügt hinzu: „Die sind auf der Welle, auf der sie schwimmen, einfach übermütig geworden und haben auch dadurch die Maske fallen lassen. So ist es auch leichter möglich, sie zu stellen, als wenn sie den Biedermann spielt“. Schließlich führt er aus: (…) Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche – selbst bei Geschäftsordnungsdebatten. (…) So kann man nicht miteinander umgehen, auch dann nicht, wenn man in der Opposition ist.“ Das Interview kann seit dem 1. Oktober 2018 nicht mehr von der Homepage abgerufen werden. Die AfD begehrt im Wege des Organstreitverfahrens die Feststellung, durch die Veröffentlichung in ihren Rechten verletzt zu sein.
Parteien sollen auf Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen an politischer Willensbildung mitwirken
Das Bundesverfassungsgericht erklärte dazu: "In der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Dies setzt voraus, dass die Wählerinnen und Wähler ihr Urteil in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung fällen können. Dabei kommt den politischen Parteien entscheidende Bedeutung zu. Um die verfassungsrechtlich gebotene Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich, gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Art. 21 Abs. 1 GG garantiert den politischen Parteien nicht nur die Freiheit ihrer Gründung und die Möglichkeit der Mitwirkung an der politischen Willensbildung, sondern auch, dass diese Mitwirkung auf der Basis gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgt."
Staatsorgane sind zur Neutralität verpflichtet - während und außerhalb eines Wahlkampfes
"Dieses Recht wird verletzt, wenn Staatsorgane zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern auf den Wahlkampf einwirken. Staatsorgane haben als solche allen zu dienen und sich neutral zu verhalten. Einseitige Parteinahmen während des Wahlkampfs verstoßen gegen die Neutralität des Staates gegenüber politischen Parteien und verletzen die Integrität der Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen. Auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität. Denn der Prozess der politischen Willensbildung ist nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet fortlaufend statt."
Grenze erlaubter staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Werbung und Einflussnahme erreicht
"Die Aufgabe der Staatsleitung schließt als integralen Bestandteil die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein. Diese ist nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern notwendig, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten und die Bürgerinnen und Bürger zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung sowie zur Bewältigung vorhandener Probleme zu befähigen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die der Bundesregierung zukommende Autorität und die Verfügung über staatliche Ressourcen eine nachhaltige Einwirkung auf die politische Willensbildung des Volkes ermöglichen, die das Risiko erheblicher Verzerrungen des politischen Wettbewerbs der Parteien und einer Umkehrung des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen beinhaltet. Die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung endet daher dort, wo Werbung für oder Einflussnahme gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien oder Personen beginnt."
Bundesregierung darf unter Wahrung der Sachlichkeit öffentliche Angriffe zurückweisen
"Vor diesem Hintergrund ist die Bundesregierung zwar berechtigt, gegen ihre Politik gerichtete Angriffe öffentlich zurückzuweisen; dabei hat sie aber sowohl hinsichtlich der Darstellung des Regierungshandelns als auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der hieran geübten Kritik die gebotene Sachlichkeit zu wahren. Das schließt die klare und unmissverständliche Zurückweisung fehlerhafter Sachdarstellungen oder diskriminierender Werturteile nicht aus. Darüberhinaus gehende, mit der Kritik am Regierungshandeln in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehende, verfälschende oder herabsetzende Äußerungen sind demgegenüber zu unterlassen."
Mitglieder der Bundesregierung verfügen im Gegensatz zu politischen Gegnern über erweiterte Möglichkeiten
"Für die Äußerungsbefugnisse eines einzelnen Mitglieds der Bundesregierung gilt nichts Anderes. Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb liegt vor, wenn Regierungsmitglieder sich am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, über welche die politischen Wettbewerber nicht verfügen. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in Ausübung des Ministeramtes stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. Eine Äußerung erfolgt insbesondere dann in regierungsamtlicher Funktion, wenn der Amtsinhaber sich in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen sowie auf der Internetseite seines Geschäftsbereichs erklärt oder wenn Staatssymbole und Hoheitszeichen eingesetzt werden."
Seehofers Äußerungen an sich sind verfassungsrechtlich unproblematisch
Das Bundesverfassungsgericht hält den Antrag der AfD nach den oben erklärten Maßstäben für begründet. Die angegriffenen Äußerungen von Innenminister Seehofer im Rahmen des Interviews sind als Teilnahme am politischen Meinungskampf verfassungsrechtlich für sich genommen nicht zu beanstanden, erklärte das Gericht. Als Begründung führte das BVerfG aus: "Die angegriffenen Äußerungen beinhalten negative Qualifizierungen der AfD. Sie beinhalten eine parteiergreifende deutliche Kritik und negative Bewertungen zum Nachteil der Antragstellerin. Ihr wird unterstellt, dass sie sich ungeachtet entgegenstehender Bekenntnisse gegen den Staat stelle und insoweit ihre Maske habe fallen lassen. Zugleich wird ihr ein Radikalisierungsprozess attestiert und ihr Verhalten als „staatszersetzend“ qualifiziert, wobei sich der diesbezüglich gewählten Formulierung nicht eindeutig entnehmen lässt, ob der letztgenannte Vorwurf lediglich im Zusammenhang mit der Kritik der AfD-Bundestagsfraktion am Verhalten des Bundespräsidenten erhoben wird oder auf die Antragstellerin als Ganzes zielt. Mit seinen Äußerungen überschreitet der CSU-Politiker Seehofer insoweit die durch das Neutralitätsgebot vorgegebenen inhaltlichen Grenzen."
Kritik am Handeln und an Zielen einer Partei beeinflussen Wählerinnen und Wähler
Weiter erklärte das BVerfG: "Soweit der Antragsgegner (Bundesinnenminister Horst Seehofer) meint, die getätigten Aussagen seien bereits deshalb nicht zu beanstanden, weil sie keinen konkreten Wahlkampfbezug gehabt hätten und lediglich ein respektvoller Umgang mit dem Bundespräsidenten angemahnt, aber keine Aufforderung zur Nichtwahl der Antragstellerin ausgesprochen worden sei, lässt er außer Betracht, dass eine Beeinflussung der politischen Willensbildung zugunsten oder zulasten einzelner Parteien nicht nur durch Wahl- oder Nichtwahlaufrufe, sondern auch durch die negative Qualifizierung des Handelns oder der Ziele einzelner Parteien erfolgen kann. Davon ausgehend hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich festgestellt, dass auch außerhalb von Wahlkampfzeiten der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität erfordert, da der Prozess der politischen Willensbildung nicht auf Wahlkämpfe beschränkt ist, sondern fortlaufend stattfindet."
Seehofer beantwortete im Interview auch Fragen außerhalb seines Ressorts
"Die Abgabe der streitgegenständlichen Äußerungen im Rahmen des Interviews als solche verletzt gleichwohl das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG nicht, weil der Bundesinnenminister dabei weder in spezifischer Weise auf die Autorität seines Ministeramtes noch auf die damit verbundenen Ressourcen zurückgegriffen hat. Vielmehr ergibt der Gesamtzusammenhang des Interviews, dass sich die Äußerungen als Teilnahme des Bundesinnenministers am politischen Meinungskampf in seiner Eigenschaft als Parteipolitiker und nicht als Wahrnehmung des Ministeramtes darstellen. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass der CSU-Politiker zu Themen befragt wird, die nicht von seinem Ressort umfasst sind."
Seehofer-Aussagen ergreifen in einseitiger Weise Partei gegen die AfD
Nach Abwägung der grundsätzlichen Zulässigkeit des Innenministers Seehofer hat nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der CSU-Politiker durch die Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage des Bundesinnenministeriums das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt. Diese Entscheidung begründete das oberste Verfassungsgericht: "Er hat damit auf Ressourcen zurückgegriffen, die ihm allein aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen. Diese hat er auch zur Beteiligung am politischen Meinungskampf eingesetzt, da die Wiedergabe des Interviews der weiteren Verbreitung der darin enthaltenen Aussagen diente. Da diese Aussagen in einseitiger Weise Partei gegen die AfD ergreifen, verstößt die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Ministeriums gegen das Gebot strikter staatlicher Neutralität und verletzt damit die AfD in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb."
Hinweis auf dpa-Interview als Primärquelle hat keinen Einfluss auf Rechtslage
"Die hiergegen seitens des Antragsgegners erhobenen Einwände rechtfertigen keine andere Einschätzung. Der Hinweis, durch die bloße Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Ministeriums erlange dieses nicht den Charakter einer amtlichen Verlautbarung, vermag das Handeln des Antragsgegners nicht zu legitimieren. Zwar wurde bei der Veröffentlichung auf die Primärquelle hingewiesen und offengelegt, dass die Veröffentlichung mit deren ausdrücklicher Genehmigung erfolgte. Entscheidend ist aber allein, dass der Antragsgegner staatliche, der AfD nicht zur Verfügung stehende Ressourcen eingesetzt hat, um die Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien zu deren Nachteil zu verändern. Der Antragsgegner kann sich zur Rechtfertigung auch nicht auf die Befugnis der Bundesregierung zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit berufen. Dabei kann dahinstehen, ob dies bereits daran scheitert, dass der Antragsgegner bei der Verteidigung des Bundespräsidenten außerhalb der ihm zustehenden Ressortzuständigkeiten gehandelt haben könnte, da die Äußerungen nicht das im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung geltenden Gebot der Sachlichkeit beachten."
Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juni 2020